Songs (ESC/Grand Prix)

Eigentlich soll der ESC bekanntlich unpolitisch sein. Ebenso bekanntlich ist dem nicht so, wenn man an manche Musiker*innen-Statements, an manche zurückgezogene bzw. disqualifizierte Songbeiträge, an manche in die Kamera gehaltene Flaggen, an bestimmte Vorfälle bei Demos im Zuge des ESC 2009 in Moskau – oder auch generell an die Selbstinszenierung des Publikums denkt. Und auch auf der Musikebene rutscht manchmal was durch… und das ist gut so.

Citi Zēn: „Eat Your Salad“, 2022

Citi Zēni: „Eat Your Salad“, ESC 2022, Beitrag Lettlands, in Turin (19., 12. & 14. Mai)

‚Instead of meat I eat veggies and pussy [=Studioaufnahme, TV = vieldeutige Pause]
I like them both fresh, like them both juicy
I ride my bicycle to work instead of a car
All of my groceries are divided by weight and stored in glass jars (Yeah)‘

Refrain:
‚Know that being green is hot (It’s hot)
Being green is cool (It’s cool)
Eat your salad, save the planet…
Being green is sexy as you…

Mal was anderes. Die Band nimmt die Herausforderung an, einen non-depressiven Song über die Forderungen unserer Zeit zu schreiben: „Our aim is to make a hard topic easy to digest & fun to listen to. That is why we decided to lyrically pursue a tone that is full of irony and satire (Terry 2022). Nun, der Song macht durchaus Spaß – ob er durchstartet, steht derweil in den Sternen.


Paradise Oskar: „Da Da Dam“, 2011

Paradise Oskar: „Da Da Dam“, ESC 2011, Platz 21 von 25 (Platz 1 in Düsseldorf: Ell & Nikki: „Running Scared“, Aserbaidschan)

‚When Peter is nine
His teacher tells him that this planet is dying…
And so … He tells his mom
I’m going out in the world to save our planet
And I ain’t comin back until she’s saved
I’ll walk my way to see the King and parliament
If they don’t help I’ll do it by myself‘

Nun, wer weiß? Möglicherweise hat die elfjährige Greta Thunberg den ESC 2011 gesehen? Der Song nimmt ihre Geschichte ziemlich präzise vorweg. Aber klar, wie Greta ging und geht es auch anderen Kindern: Was die Erwachsenen da seit jeher treiben ist schlicht unfassbar.

Und nein, Paradise Oskar heißt auch nicht zufällig so: Astrid Lindgrens Landstreicher, der den Waisenjungen Rasmus auf der Straße aufliest und ihm schließlich – am Ende des 1956 erschienen Romans – gemeinsam mit seiner durchaus in einem Haus lebenden Ehefrau ein neues Zuhause gibt, ist genau so ein Lebensphilosoph wie der hier auf der ESC-Bühne stehende zwanzigjährige finnische Songwriter Axel „Paradise Oskar‘ Ehnström.


Katja Ebstein: „Diese Welt“, 1971

Katja Ebstein: „Diese Welt“, ESC 1971, Bundesrepublik Deutschland, Platz 3 von 18 (Platz 1 in Dublin: Séverine: „Un banc, un arbre, une rue“, Monaco)

‚Diese Welt, diese Welt
Hat das Leben uns geschenkt
Sie ist dein, sie ist mein
Es ist schön auf ihr
Was werden soll, liegt an dir‘

‚Rauch aus tausend Schloten
Senkt sich über Stadt und Land
Wo noch gestern Kinder war’n
Bedeckt heut Öl den Strand‘

‚Nur dieser Stern ist unser Stern
Die andern sind viel zu weit‘

Letztere Textzeile würde man heute wohl als „There Is No Planet B“ formulieren. Auffällig ist bei der Beschäftigung mit Songs, die die Überlebenskrise der Menschheit thematisieren immer wieder, dass Songs des 20. Jahrhunderts tendenziell den Finger deutlicher in die Wunde legen, als es die heutigen eher als „Motivationssongs“ angelegten Lieder tun. Anders ausgedrückt: Der eben beschriebene Finger konnte im 20. Jahrhundert in der Epoche der politischen (Protest-)Liedermacher noch durchaus gehoben sein, während heute eher sanfter Radiowellen-Sarkasmus zum Mitsingen auf der 30-up-Party, angesagt ist (vgl. Tim Benzko „Kein Problem“, 2021).


Darude feat. Sebastian Rejman: „Look Away“, 2019

Darude feat. Sebastian Rejman: „Look Away“, ESC 2019, Finnland, Halbfinale 1 Platz 17 von 17 (Platz 1 des Finales in Tel Aviv: Duncan Laurence: „Arcade“, Niederlande)

‚There’s something you should know
I can’t sing a love song anymore
There’s something going on
And I can’t turn my back on it anymore
How can we go to sleep at night
And lay there in our beds?
When we know what’s going on
With the world today
Is it in my head? Am I the only one?‘

Ein reichlich zusammengebastelt wirkender Text, der m.E. an „This Is Not A Love Song“, „Beds Are Burning“ und „In The Air Tonight“ erinnert. Die Strophe (nach dem Drama-Auftakt) lässt mich einwandfrei „You Keep Me Hanging‘ On“ (Original: The Supremes 1966, Kim Wilde 1986) assoziieren. Alles andere ist – sorry – kompositorische Einheitssauce, 1000 Mal gehört und immer noch nichts passiert. In Finnland war Darude zu dieser Zeit „King“, und zwar Dank sechs Top-5-Hits, die ihn als logischen Songwriter eines ESC-Beitrags qualifizierten. Der oben zitierte Text mündet dann in den Refrain mit der Botschaft, dass wir bislang alle wegschauen. Ich zitiere hier bewusst wikipedia, denn auch ich kann zusammenbasteln, wenn ich will: „Der Song befasst sich mit gesellschaftlichen und ökologischen Problemen, wie dem Klimawandel, Kriegen oder Krankheiten. Die Botschaft des Songs ist es, dass man nicht wegsehen soll, sondern diese Sachen wahrnehmen und darüber nachdenken soll“ (2021). Fazit: Halbgares Zeug, zu Recht gescheitert im Halbfinale.


Alyosha: „Sweet People“, 2010

Alyosha: „Sweet People“, ESC 2010, Ukraine, Platz 10 von 25 (Platz 1 in Oslo: Lena „Satellite“, Deutschland)

‚The message is so true
The end is really near
All these feelings take me down
It steals the things so dear
Don’t turn all the earth to stone
Because, because, because
This is your home
This is our home.‘

Prangert ungewöhnlich deutlich die Zerstörung der Mitwelt an – sie fragt uns „was die Menschheit da angerichtet habe“ (Schwarz 2021) und kommt gleichzeitig als wortmächtige und stimmgewaltige Absage an Krieg und Gewalt rüber – und trifft daher in diesen Tagen des März ’22 nochmal ganz anders als 2010. Auch unabhängig davon handelt es sich bei „Sweet People“ m.E. um einen eher unterschätzten ESC-Beitrag.


Karoline Krüger: „For vår jord“, 1988

Karoline Krüger: „For vår jord“, ESC 1988 (=“Für unsere Erde“), Norwegen, Platz 5 von 21 (Platz 1 in Dublin: Céline Dion: „Ne partez pas sans moi“, Schweiz)

Beschrieben wird eine weiblich gelesene und nicht näher beschriebene, diffuse Figur bzw. Macht, die über die Erde wacht und von den Menschen für verrückt erklärt wird… wie es so manchem ökologisch bewegten Menschen in der Vergangenheit ergangen ist und wenn ich in die leeren Augen so einiger meiner Gesprächspartner*innen schaue, auch heute noch ergeht… Das Lied endet mit der auf Norwegisch formulierten Aufforderung, dass wir Wache zu stehen haben für unseren Planeten.


>> s.a. Madonna: „Wake Up“ beim Eurovision Song Contest (ESC), 2019 in Abschnitt Statements und Aktionen.


Quellen des Abschnitts „Songs (ESC/Grand Prix)“